ÜBER DAS ARBEITEN MIT ARCHIVEN
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Zu Gudrun Barenbrocks Architektur-Projektion RE:MIXED am Gerhard-Jahn-Platz Marburg 2022
Von Bettina Pelz. Veröffentlicht am 04. APR 2022.
„Ein umfangreiches Archiv ist wie ein gut gefüllter Kühlschrank: Es ist immer etwas drin, worauf man Lust hat“, sagte Gudrun Barenbrock beim Interview zur Vorbereitung dieses Textes. Sie hat Kunst studiert und konzentrierte sich zunächst auf Malerei, die Fotografie war nur eine Art Begleiterscheinung. Anfang der 1990er Jahre begann sie mit dem Archivieren und speicherte fotografische Bilder. Heute ist das ihr Schwerpunkt: Sie manipuliert und animiert Fotos und Videos, collagiert und komponiert neue visuelle Systeme.
Seit den frühen 2000er Jahren setzt sie diese als Videokunstinstallationen um. Sie schafft räumliche und zeitliche Situationen, die dazu einladen, Bilder als eine offene Quelle zu erleben. Der Leitgedanke, der ihr Archiv füllt, ist nicht, dem Vergessen vorzubeugen und das Verschwinden der Dinge aufzuhalten, sondern sich selbst mit Material für eine nicht-lineare künstlerische Forschung und Produktion zu versorgen.
Photos: Christian Stein (.KLSP)
„Mein eigenes Archiv zu haben, bedeutet Unabhängigkeit. Ich muss niemanden fragen und kann mit dem Material machen, was ich will, auch bis hin zur Vernichtung.“, sagt sie, „anfangs arbeitete ich noch nicht mit Videos, sondern nur mit Fotos, hauptsächlich Dias, für Rauminstallationen mit Diaprojektoren. Damit hatte ich während meines letzten Jahres an der Kunsthochschule begonnen. So entstand der Fundus an Fotos, mit denen ich auch heute noch arbeite. Für das Ausstellungsprojekt „Update#04 Cologne“ im Jahr 2021 habe ich zum Beispiel etwa 3000 Fotos von damals bis heute verwendet“. Seit Anfang der 2000er Jahre nimmt sie auch Videos in ihr Archiv auf, insbesondere nachdem sie 2004 ihre erste eigene Sony Cam erworben hatte.
„Ich benutze die Bilder, um meine Einstellung und Haltung zu überprüfen, sie liefern mir Referenzen, die es mir ermöglichen, die Kontinuität und/oder die Veränderung meiner Perspektive zu verstehen.“ Mit ihrer Kamera beobachtet sie natürliche oder urbane Landschaften, organische sowie industrielle Strukturen, Makro- und Mikrokontexte. „Oft nehme ich meine Kamera einfach mit, ohne etwas Bestimmtes im Sinn zu haben, sie ist klein, sie passt in meine Jackentaschen. Ich finde eine gewisse Beiläufigkeit wichtig, manchmal stoße ich auf etwas, das mich interessiert, manchmal nicht …“. Fotografie und Video sind für sie mehr als nur Medien der Dokumentation: „Zunächst erlauben die Aufnahmen eine Art der Vergewisserung. Sie versichern: So war es wirklich – so und nicht anders.“ Und zugleich ermöglicht diese Zeugenschaft auch, die visuellen Fakten neu zu interpretieren.
Auf die Frage, was sie sammelt, antwortete sie: „(Fast) alles. Alltägliche Dinge, banale Dinge, besondere Dinge – das spielt keine Rolle. Eigentlich kann ich nie genug haben. Das hat auch eine manische Komponente …“. Sie geht intuitiv vor, spürt auf, was ihre Aufmerksamkeit erregt, und experimentiert mit dem Zusammenspiel von künstlerischem Auge und technischer Kamera. „Wenn ich aus dem fahrenden Zug die Lichtbänder in einem Tunnel filme, die durch ein fahrendes Auto oder die Schienen verursacht werden, dann interessiert mich die visuelle Ungenauigkeit. Es sind diese Abweichungen, die man im Computer nicht erzeugen kann.“ Sie spürt ästhetischen Erscheinungen nach, die durch Licht und Schatten, durch Materialien und Handlungsspuren, durch technische Funktion und Dysfunktion entstehen. „Manchmal baue ich auch eigene Versuchsanordnungen, kürzlich habe ich eine Kamera auf ein Fahrrad geschnallt oder eine Konstruktion gebaut, die es mir erlaubt, Feuer und Glut zu filmen, ohne dass die Kamera beim Filmen durch die Hitze Schaden nimmt. Diese experimentelle Arbeit reizt mich sehr, im besten Fall wartet eine Überraschung auf mich.“
Photos: Christian Stein (.KLSP)
Thematische Untergruppen umfassen natürliche und gebaute Umgebungen, technische Einstellungen und industrielle Umgebungen, Verkehrsverhalten und Transport, ökologische Lebensräume und wetterabhängige Situationen, Chemie und Biologie. Ihr Ansatz ist vergleichbar mit den Ideen, die in der Spätrenaissance und im Barock die „Wunderkammern“ füllten. Der kunsthistorische Begriff bezeichnet ¬private Sammlungen, in denen „Artificialia“ – Werke des Kunsthandwerks, „Naturalia“ – seltene, in der Natur gefundene Objekte, „Scientifica“ – ungewöhnliche, für die wissenschaftliche Forschung entwickelte Instrumente, „Exotica“ – ungewöhnliche Objekte aus fremden Kulturen – und „Mirabilia“ – unerklärliche Objekte – zusammengetragen und ausgestellt wurden. Es handelte sich um persönliche Sammlungen ohne Richtlinien, Sammelkonzepte oder wissenschaftlichen Rahmen, es war vielmehr das Außergewöhnliche, das die Sammler_innen interessierte.
Mit einem vergleichbaren unsystematischen Ansatz des Sammelns organisiert Gudrun Barenbrock ihr Archiv: „Mein Archiv hat eine „klare“ Struktur. Alles ist nach – oft selbst erfundenen – Begriffen abgelegt und beschriftet. Es ist ein eigenes System, und es ist gut möglich, dass nicht jeder sofort damit etwas anfangen kann. Aber ich finde die Dinge schnell, wenn ich sie suche.“ Das Sortieren, Ordnen und Beschriften ist Teil der künstlerischen Reflexion, bereichert das archivierte Material mit Notizen zu Beobachtungen und Assoziationen und ist Teil der Vorbereitung auf das zukünftige künstlerische Handeln.
Anders als bei den Wunderkammern geht es ihr nicht um erkennbare Objekte, sondern um Beziehungsdynamik und Interaktion. Ihr Interesse und ihre Neugierde, verbunden mit einem Sinn für Wunder und das Staunen, sind Teil der künstlerischen Haltung von Gudrun Barenbrock. Im Gespräch mit ihr reflektiert sie, dass trotz ihres bereiten Interesses Fotos und Videos „mit Menschen“ kaum dabei sind, „vielleicht weil mich das konkrete Geschichtenerzählen nicht besonders interessiert.“ Ihr Fokus liegt auf Strukturen, Mustern und Rhythmen, Bewegung und Interferenzen. Ihre Vorliebe für das Arbeiten in Schwarz-Weiß unterstreicht diese Parameter, indem sie auf Farbe als signalgebendes Medium verzichtet.
In ihrem Atelier untersucht sie das vorgefundene Filmmaterial auf der Suche nach Arrangements und Mustern, Bewegungen und Systemen. Teil ihrer Untersuchung sind ästhetische Manipulationen wie die Reduzierung der Materialität des Bildinhalts oder die Erhöhung der Hell-Dunkel-Divergenz. Sie entfärbt und überfärbt, skaliert Licht- und Transparenzwerte ebenso wie Kontraste. Sie betrachtet die entstehenden Formen und Verläufe, vervielfältigt, was visuell wertvoll erscheint. „Die Hälfte der Miete ist Handarbeit, Ausprobieren, Testen … und wenn etwas nicht funktioniert, kommt vielleicht etwas anderes dabei heraus, und so entstehen neue Ideen“. Immer wieder aufs Neue betrachten, bedenken und bewerten sind wesentliche Merkmale ihrer Arbeitsweise. Linien, Flächen und Formen werden mal aneinandergereiht, mal überlagert. Wiederholungen und Schleifen werden zusammengesetzt, Sequenzen werden eingerichtet und Dialoge entstehen. Mit diesen Komponenten collagiert die Künstlerin Bildströme, mit denen sie – in Form von Projektionen – ausgewählte Räume bespielt.
Während des gesamten künstlerischen Prozesses fungiert das Archiv als ein Behälter, der das Gesammelte und Sortierte aufnimmt und gleichzeitig Ressourcen und Inspiration liefert. „Und irgendwann schaue ich mir das Material dann wieder an. Vielleicht weil ich nach einem bestimmten Rhythmus, einer Bewegung, bestimmten Lichtverhältnissen suche, weil ich eine Idee für einen Raum, für eine bestimmte Stimmung in einer Installation habe. Dann kann ich wieder und wieder durch meine Sammlung scrollen, kann neue Aspekte in dem „alten“ Material entdecken, kann durch einen Eingriff bestimmte Dinge verstärken, fokussieren, in neue Zusammenhänge bringen, auch in die Gegenwart holen, kann Dinge sichtbar machen, die vorher nicht sichtbar waren. Diese Transformation ist immer wieder aufs Neue ein extrem spannender Prozess.“
Ihr Fokus orientiert sich an dem Betrachten als einem offenen Prozess, d.h. es geht darum etwas zu entdecken, das in der nur flüchtigen Ansicht übersehen wird. Während die alltägliche Wahrnehmung auf schnelle Identifikation und vereinfachte Navigation ausgerichtet ist, interessiert sich der künstlerische Ansatz eher für Unterschiede als für Gemeinsamkeiten. „Mit archiviertem Material zu arbeiten, bedeutet vor allem eines: Ich muss die Welt nicht neu erfinden, alles ist schon da. Und es ist viel besser und überraschender, als ich es mir je ausdenken könnte. Alles, was ich tun muss, ist aufzeichnen, sammeln und aufbewahren. Oft weiß ich noch nicht, was ich mit dem Material machen werde und ob überhaupt etwas damit gemacht werden kann. Manchmal liegt das Material jahrelang auf einer Festplatte – und ich habe mittlerweile viele Festplatten.“
Gudrun Barenbrock hat einen Forschungsansatz entwickelt, der einer künstlerischen Logik folgt, die ihren dialektischen Schatten, den „Zufall“, mit einbezieht und so das Nachdenken über die Zusammenhänge von Vergangenem, Gegenwärtigem und Kommenden aufdehnt und ausdifferenziert. Sie hat eine Bildsprache entwickelt die dem entspricht wie Wissenschaft heute erinnern beschreibt: Erinnern ist eine Art des Aktualisierens, und der Moment des Erinnerns ist entscheidend, denn im Zusammenspiel mit dem Kontext in der Gegenwart formt sich die Erinnerung. Dabei vereinfachen wir, verdrehen, vergessen, wir halten Gelesenes und Gehörtes für Erlebtes und erinnern uns sogar an niemals Geschehenes. Das tun wir alle, wir können gar nicht anders. Gudrun Barenbrock verweist auf das Bedingte und Prozesshafte von Erinnerung mit einem künstlerischen Ansatz, der sich durch das exzessive Arbeiten mit Archiven auszeichnet.
UNTERSTÜTZUNG
Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
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