DIVERS + QUEER IN KUNST UND KULTUR. Reflexion zur Förderung queerer Perspektiven

ACCEPT – ALLOW – AGREE | DIVERSITY VISITS

Verfasst von Marita Günther, OKT 2022

Diversität ist ein auf allen gesellschaftlichen Ebenen gerade vieldiskutiertes Thema: Die stärker werdende gesellschaftliche Vielfalt und soziale Unterschiede nehmen wir alle jeden Tag wahr –manchmal vielleicht eher als spannungsreiche Differenz oder wenig angenehme Uneindeutigkeit, mal als interessante und bereichernde Vielfalt, die aktiv gestaltet werden kann. Dabei treffen wir auf soziale Zuschreibungen wie problematische Stereotypisierungen, die gerne in Medien wiederholt werden, oftmals auch von uns allen in Alltagssituationen. Vielfalt ist aber auch gelebte Realität und für Identitätsprozesse und Möglichkeiten der Selbstbestimmungen wie z.B. Geschlechteridentitäten wichtig. Diese verschiedenen Aspekte sozialer Diversität bestimmen unseren Alltag, unsere Arbeit und auch unseren öffentlichen Stadtraum und alle kulturellen Aktivitäten darin.

Diversitäts- und queersensible Projekte wollen aktiv eine Kultur der Offenheit in Vielfalt als gesellschaftlichen Gewinn gestalten. Kulturinstitutionen wie Kunstmuseen, Stadtmuseen und Archive, aber auch Aktivitäten und Feste im öffentlichen Raum sind Orte, die Wissen vermitteln und gesellschaftliches Miteinander gestalten. Das dort vermittelte Wissen ist aber keineswegs ‚neutral‘ und die Zugangsmöglichkeiten ungleich: Wer über wen oder was Wissen produziert und darstellt, wer am öffentlichen Austausch und an kulturellen Aktivitäten teilhaben und diese gestalten kann, wird durch ungleiche Verteilung von Deutungsmacht und politische Entscheidungen, durch Differenzsetzungen, Marginalisierungen und Ausschlüsse mitbestimmt.

Kulturelle Institutionen sind also von sozialen Zuschreibungen und Machtverhältnissen nicht ausgenommen und gestalten Wahrnehmungen und die Bedingungen für Diversität. Das birgt Potential zur Reproduktion bestehender Verhältnisse wie auch deren Veränderung: Sie können Möglichkeitsräume sein, Diversität gemeinsam zu thematisieren, zu erleben und zu gestalten.

IDENTITÄTSPROZESSE UND VIELFALT

Diversität als Vielfalt sozialer Lebenslagen bewegt sich in einer Spannung von Differenz als sozialer Zuschreibung und gelebter Realität von Selbstbestimmungen und Identitätsprozessen. Um selbstbestimmte Vielfalt schützen zu können, werden Kategorien und damit Fixierungen erforderlich, die etwas zu benennen und festzuschreiben versuchen, das sich der Festlegung bzw. einer Fixierung von außen zu entziehen versucht, wie ein fluides Verständnis von Geschlechteridentität.

Projekte zu Diversität, die Vielfalt offen lebbar machen möchten, sollten diese gesellschaftlichen Dynamiken im Blick haben und sich gegen essentialisierende Vorstellungen und Zuschreibungen aussprechen, die Menschen auf Kategorien reduzieren und weitere Ausschlüsse produzieren. Eine intersektionale Perspektive berücksichtigt die Komplexität von sozialen Lebenslagen, Kategorien und Zuschreibungen. Damit gerät ebenfalls Chancengleichheit in den Blick, indem Differenzierungen auch als soziale Zuschreibungen und Ungleichheiten thematisiert werden: Um Diversität als Gewinn und Möglichkeitsräume erfahrbar zu machen, müssen sie als solche überhaupt wahrnehmbar und auch nutzbar sein.

Öffentlichkeit und Teilhabe ist nicht für alle gleich möglich – hier spielen Faktoren wie Herkunft, Weltbilder und lokale Strukturen eine wichtige Rolle. Daraus erwachsende Spannungen, die zwischen Offenheit, Gleichberechtigung und unterschiedlichen Weltbildern entstehen können, sind zu berücksichtigen und in einem Miteinander zu gestalten.

Eine intersektionale Perspektive hinterfragt auch die Wahrnehmung einer spezifischen Gruppe als in sich vermeintlich einheitlich. Jede Gruppe ist durch weitere bestimmende soziale Faktoren heterogen und dynamisch und es werden unterschiedliche Standpunkte vertreten. Zu berücksichtigen ist, dass auch spezifische Formate des Kulturbetriebs, die bestimmte Zielgruppen unterstützen und einbeziehen wollen, ebenso Ausschlüsse und Zuschreibungen produzieren können, die auch Veränderungen nicht ausreichend berücksichtigen.

DIVERSITÄTS- UND QUEERSENSIBLE PERSPEKTIVEN

Diversitäts- und queersensible Perspektiven im Kulturbetrieb bedürfen sowohl spezifischer Formate wie auch den Einbezug in bestehende Strukturen. Ein partizipativer Ansatz, der möglichst diverse Personengruppen einbezieht, ermöglicht eine aktive Gestaltung von und mit unterschiedlichen Perspektiven und Bedingungen sowie damit eine Hinterfragung bestehender Verhältnisse und vermeintlicher Eindeutigkeiten. Partizipation bedeutet eine nachhaltige Neu- und Mit-Gestaltung bestehender und auch neuer Formate durch diverse Akteur*innen.

Ergänzt durch niedrigschwellige und eher temporäre interaktive Vermittlung in bestehenden Institutionen, Ausstellungen etc. wird durch diese Ansätze Verbindlichkeit und Akzeptanz im gesellschaftlich vielfältigen Miteinander möglich. Die eigene Position in der Gesellschaft, Kultur und auch im öffentlichen Raum wird anders und neu im Austausch mit anderen Perspektiven erfahrbar und erlebbar. Spannungen und Widersprüche werden thematisiert und aktiv mitgestaltet. Expert*innen, Personen und Stellen, die dauerhaft an Maßnahmen und Strukturen arbeiten, können durch Reflexion und Weiterentwicklung diesen auch spannungsreichen Dynamiken Rechnung tragen und Möglichkeitsräume für Diversität als gelebtes Miteinander auch strukturell gestalten.

Der nachhaltigen Sichtbarmachung von Veranstaltungen und Ausstellungen kommt ebenfalls eine wichtige Rolle zu. Sie tragen vielfältige und auch spannungsreiche Debatten, Positionen, Erfahrungen und Ergebnisse in den öffentlichen Raum.

QUEER.ART.MARBURG + ACCEPT ALLOW AGREE + DIVERSITY VISITS: LOKALER UND INTERNATIONALER AUSTAUSCH ZU QUEERER KUNST

Fragen nach Definierbarkeit und Zielsetzungen von Queerer Kunst wurden bereits im November 2021 mit dem Workshop Queer.Art.Marburg diskutiert, zu dem die Kuratorin Sylvia Sadzinski, der Künstler Constantin und der Sammler Florian Peters-Messer zum Austausch mit Künstler*innen und der lokalen Szene eingeladen wurden. Auf welcher Ebene kommen diese zum Tragen, was ist eine queere künstlerische Position und was bedeutet das für die kuratorischen Aufgaben? In der Gesprächsreihe ACCEPT – ALLOW – AGREE mit internationalen Künstler*innen und Kurator*innen wurden im Jubiläumsjahr 2022 im Kontext von .KUNST.LABOR.STADT.PLATZ weitere Aspekte des Einbezugs queerer Perspektiven in verschiedene Kunstbetriebe weltweit diskutiert. Elf internationale Redner*innen stellten ihre Projekte und Policies aus ihren kulturellen und lokalen Kontexten aus Tunesien, den Niederlanden, Tschechien und Deutschland vor. Bestehende Projekte, verschiedene Umsetzungsformate und Erfahrungswerte wurden referiert. Welche Aktionen bestehen, welche Herausforderungen und Ziele geteilt werden, wurde in regelmäßigen Online-Meetings ausgetauscht.

Als Teil der Vermittlungskonzepte von .KUNST.LABOR.STADT.PLATZ wurden in den DIVERSITY VISITS aktuelle Ausstellungen und künstlerische wie kulturhistorische Sammlungen in neuen diskriminierungskritischen Workshopformaten besucht und mit Teilnehmer*innen Wissen ausgetauscht und gemeinsam generiert. Die Projekte der Gesprächsreihe und der DIVERSITY VISITS haben gezeigt, dass insbesondere die Auseinandersetzung mit Kunstwerken Perspektivwechsel ermöglichen, indem diese sich einer eindeutigen Interpretation entziehen, provozieren und neue Räume für die gemeinsame Gestaltung von Vielfalt öffnen.

Diese interaktiven Formate verdeutlichten den Spielraum und ihre Anschlussfähigkeit als Vermittlungsformen in unterschiedlichsten bestehenden Sammlungen und temporären Ausstellungen. Intensiver Austausch über Diversität in Kunst, Kultur und Gesellschaft, aber auch auf individueller Erfahrungsebene, kann durch interaktive und partizipative Formate in jede bestehende Struktur oder z.B. Ausstellung hineingetragen werden und einen nachhaltigen Perspektivwechsel ermöglichen: Orte, in denen sich Gesprächspartner*innen mit vielen verschiedenen Perspektiven und Erfahrungen auf Augenhöhe austauschen können, ermöglichen auch einen emotionalen Zugang, und Irritationen und Unsicherheiten − beispielsweise in Bezug auf Geschlechter und deren Uneindeutigkeiten − können kommuniziert werden.

Um Vielfalt zu gestalten, braucht es in erster Linie ein Miteinander von Gesprächspartner*innen mit verschiedenen Perspektiven und Erfahrungen, die sich auf einen gleichberechtigten Austausch einlassen. Dann können sich Türen öffnen, um miteinander Vielfalt zu gestalten und zu leben.

DEFINITIONEN: DIVERSITY, QUEERNESS, INTERSEKTIONALITÄT

Diversity Studies, Diversity Strategien

„Diversity bedeutet Vielfalt oder Verschiedenheit und bezieht sich im sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch auf die Diversifizierung sozialer Lebenslagen und sozialer Zugehörigkeit. (…) Diversity Studies (bzw. Diversitätsforschung) befassen sich mit sozialer und gesellschaftlich relevanter Vielfalt und dem Umgang damit.“ (1053 und 1055)

„Um tatsächlich eine solche positive Auswirkung weiterzutreiben, müssen Diversity-Strategien theoretisch reflexiv vorgehen. (…) Problematisch ist es, in der konkreten Arbeit Gruppenzugehörigkeiten zu personalisieren und vermeintliche Eigenschaften abzuleiten, wie es bei dem Verweis auf positive Ressourcen im Diversity Management oder Mainstreaming nicht selten der Fall ist. (…) In diesem Sinne müssen Diversity Studies (auch) die Diversifizierung zu Gegenstand haben und nicht (nur) die Differenz, die Identifikationen und nicht die Identitäten. Auch sind Benachteiligungen sowie Privilegierungen in den Blick zu nehmen, die mit Kategorisierungsprozessen erzeugt werden.“ (1060)

Uta Klein (2019), Diversity Studies und Diversitystrategien: Plädoyer für eine Theoretisierung der Praxis und für eine Konzeptualisierung der Theorie, in: B. Kortendiek et al. (Hg.), Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, 1053-1062.

Intersektionalitäts-Ansatz

„Der Begriff „intersectionality“ oder „intersectional analysis“ kam Ende der 1980er-Jahre in die feministische Diskussion, um bezogen auf Race, Class und Gender das Ineinanderwirken verschiedener Herrschaftsverhältnisse bzw. Formen sozialer Ungleichheit und sozialer Verschiedenheiten in den Blick zu bekommen. Gemeint ist eine kontextspezifische und gegenstandsbezogene Analyse der Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender gesellschaftlicher Strukturen und Praktiken.“ (341f.)

Nina Degele (2019), Intersektionalität. Perspektiven der Geschlechterforschung.In: B. Kortendiek et al. (Hrsg.), Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Geschlecht und Gesellschaft, 341-348.

Queerness und Queering

„Queerness steht hier für „Identität störende“ (…) Differenzen, Lücken und mannigfaltige Möglichkeiten, die in monolithischen Geschlechts- und Sexualitätsidentitäten nicht aufgehen (…). Methoden des Queering dienen dazu, Dissonanzen, Bedeutungsüberschüsse und Inkohärenzen in den kulturellen Repräsentationen von Sexualität und Geschlecht aufzuzeigen, alternative Erzählweisen, Ästhetiken und Forschungszugänge werden entwickelt, die der Queerness von Sexualität, Begehren und Geschlecht Rechnung tragen, indem sie identitäre Fixierungen vermeiden und binäre Logiken unterlaufen.“ (334)

Mike Laufenberg (2019), Queer Theory: identitäts- und machtkritische Perspektiven auf Sexualität und Geschlecht. In: B. Kortendiek et al. (Hrsg.), Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Geschlecht und Gesellschaft, 331-340.

DIVERSE + QUEER: WORKSHOPS, PROJEKTE, KUNSTVERMITTLUNG

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WEITERLESEN
museen-queeren.de
lab-bode.de
historisches-museum-frankfurt.de
tuebingen.de/stadtmuseum
Sabine Dengel, Julia Hagenberg, Linda Kelch und Ansgar Schnurr (Hg.), (2021), Mehrdeutigkeit gestalten: Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik, Bielefeld.

AUTORIN
Marita Günther ist Religions- und Kulturwissenschaftlerin. Im Rahmen ihrer Dissertation erforscht sie gegenwärtige Konstruktionen von Geschlecht und Wissen in zeitgenössischer Religiosität. Die kulturellen und weltanschaulichen Bedingungen für diese Konstruktionen sind Thema ihrer Vortragstätigkeit und als Dozentin für Religionswissenschaft und Gender Studies. Marita Günther arbeitete als wissenschaftliche Beraterin und Diversitätsagentin mit am Konzept der Kunstvermittlung im Projekt .KUNST.LABOR.STADT.PLATZ. Dabei gestaltete sie Interventionen in Sammlungen, Museen und Kunstausstellungen durch die DIVERSITY VISITS. Sie konzipierte und moderierte auch den internationalen Austausch mit Kurator_innen, Künstler_innen und Forscher_innen bei den Workshops von ACCEPT ALLOW AGREE gemeinsam mit Bettina Pelz und Celica Fitz.

LINK
.KLSP:_Marita Günther
uni-marburg.de: Marita Günther