MATTHIAS SCHAMP: O-TON

Kunstaktion am Rudolphsplatz
2. – 3. JUN 2022
DO/FR 14.00 Uhr – 20.00 Uhr

PROFIL | KUNSTPROJEKT

In der Vorbereitung zu dem geplanten Projekt MYTHOS-GRILL am Rudolphsplatz sprach Bettina Pelz mit dem Künstler Matthias Schamp. Veröffentlicht am 31. Mai 2022.

Du bist gerade in einem Hochschul-Projekt aktiv, dass du für uns unterbrichst. Was machst du? Und was lehrst du?

Seit über zehn Jahren habe ich Lehraufträge an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. Dort sind Studierende der „Sozialen Arbeit“. Das ist sehr spannend, weil diese ja primär erstmal nichts mit Kunst zu tun haben. Zu dem Studiengang gehört aber das Modul „Ästhetische Bildung und Medienkompetenz“. Und darin unterrichte ich. Die Hochschule hat auch einen Kooperationsvertrag mit dem Kunstmuseum Bochum. Und im Rahmen dieser Zusammenarbeit haben wir schon einige Ausstellungen im Kunstmuseum realisiert. Gerade bereite ich zusammen mit Prof. Helene Skladny und Dr. Stephan Strsembski sowie drei Seminaren die Ausstellung „Labor für Kunst & soziale Recherche“ vor. Start ist am 2. Juli.

Mit der Mischung aus Kunst im öffentlichen Raum, ästhetischer Bildung und soziokultureller Arbeit experimentieren wir auch im Rahmen des Stadtjubiläums am Rudolphsplatz. Am 2./3. Juni realisierst du eine weitere Edition des MYTHOS- GRILL, diesmal in Marburg. Die wichtigste Frage zum Einstieg: Wozu braucht es Fritteusen, um Kunst am Rudolphsplatz zu machen?

Ich würde in dem Fall nicht von einer weiteren „Edition“ reden. Sondern ich verwende den Begriff „temporäre Filiale“. Der MYTHOS-GRILL ist ein Unternehmen. Und dieses Unternehmen hat im Laufe seines 24jährigen Bestehens ein weitgespanntes Filialnetz aufgebaut. Weil diese Filialen aber jeweils nur für einen begrenzten Zeitraum existieren, sind sie eben „temporär“. Manche existierten nur ein paar Stunden. Andere Wochen. Und manche sogar ein paar Monate. Der MYTHOS-GRILL ist eine alltagsarchäologische Spielstätte und zugleich Pommesbude. Fritteusen sind also gewissermaßen die Herzkammern des Projekts.

Du kennst den Rudolphsplatz von Besuchen in Marburg, was interessiert dich an dem Ort?

Grundsätzlich bewege ich mich mit meiner Arbeit sehr oft im öffentlichen Raum. Ich habe mich schon mit den Zonen höchster Verdichtung – wie z. B. Fußgängerzonen – künstlerisch auseinandergesetzt. Aber auch mit Stadtbrachen. Der Rudolphsplatz ist ein besonderer Ort, weil er sehr disparate Momente in sich vereinigt. Er ist irgendwie abgelegen und doch zentral. Er ist umtost vom Straßenverkehr, doch wird auch vom Flussufer tangiert was unterschiedliche Geschwindigkeiten mit sich bringt. Mit der Passage, der Brücke, dem Brunnen, der Uferzone, dem Glaspavillon und der Treppenanlage hat er geradezu eine Überfülle an markanten Merkmalen. Durch seine Kompaktheit und die enge Einfassung seitens der Architektur wirkt er fast schon wie ein Innenraum bzw. eine Art Atrium. Innen und außen sind seltsam verschränkt. Und dann ist er ja auch in der Aufsicht erfahrbar, was ihm eine spezielle Bildlichkeit verleiht.

Verteilt über Marburg gibt es verschiedene Spuren der brutalistischen Baukultur, wie sie sich nach dem zweiten Weltkrieg in Europa und der Welt verbreitet hat. Die Gestaltung des Rudolphsplatz gehört auch dazu. Hast du auch ein Faible für diese Architektur-Strömung? Und die Ideenwelt, die damit verbunden ist? Oder warum hast du der Idee zugestimmt, einen MYTHOS-GRILL zu brutalistischen Architektur zu machen?

Generell finde ich brutalistische Architektur bemerkenswert und oft auch sehr schön. Die Universität in Bochum, an der ich studiert habe, ist ja dafür auch ein Beispiel. Ich habe mich auch schon verschiedentlich mit brutalistischer Architektur künstlerisch auseinandergesetzt. So habe ich eine Arbeit für das Skulpturenmuseum Glaskasten in Marl realisiert. Sie hieß „Marl transzendieren!“ Mittels eines Laubbläsers habe ich eine Feder durch Marl getrieben. Und in der Berliner Gropiusstadt hatte ich als temporäre Filiale des MYTHOS-GRILL mal einen „Fischstäbchen-Bring-Service“ betrieben.

Ich halte ein Umdenken, was brutalistische Architektur anbelangt, für notwendig. Man kann ihren Reiz erkennen. Ohne dabei die Schattenseiten zu verleugnen. Natürlich finde ich vieles beispielsweise am „Plan Voisin“ von Le Corbusier fragwürdig. Und auch an den Utopien eines Ludwig Hilberseimer. Obwohl ihre Wichtigkeit für die moderne Stadt unbestreitbar ist. Und diverse soziale Probleme als Folge solcher Stadtentwürfe sind ja auch nicht zu leugnen. Albrecht Wellmer spricht, wenn ich mich recht entsinne, in dem Zusammenhang von einem „real existierenden Funktionalismus“. Aber man sollte auch die immensen Errungenschaften nicht klein reden. Und sich auch ihrer speziellen Schönheit nicht verschließen. Und anstelle von Niederreißen bin ich im Zweifelsfall sowieso immer für Umcodieren.

Ich habe den Eindruck, dass dich vor allem Dinge, Situationen und Narrative interessieren, die etwas aus der Mode gekommen sind, die sich an der Peripherie der allgemeinen Aufmerksamkeit einfinden.

Ja. Das mit der Peripherie der allgemeinen Aufmerksamkeit stimmt. Vor allem die Randzonen interessieren mich.

Welche Musik sollen wir zum Mythos-Grill spielen?

Was die Musik im MYTHOS-GRILL anbelangt – da passt eigentlich vieles. Wir hatten mal ein legendäres Konzert in einer temporären MYTHOS-GRILL-Filiale. Costa Wendland (der unbekannte Dritte der berühmten Wendland-Brüder) hat eine Stunde lang auf der Gitarre immer nur die Anfangs-Takte des Sirtaki gespielt. Das war großartig. Gewissermaßen „griechische Volksmusik meets Minimal-Music“. Wobei der Sirtaki ja selber wieder ein Kunstprodukt ist. Er wurde speziell für den Film „Alexis Sorbas“ erfunden.

Den ersten MYTHOS-GRILL hast du 1998 realisiert, und seitdem in vielen Varianten und verschiedenen Orten umgesetzt. Gibt es Orte oder Erfahrungen, die dir besonders in Erinnerung geblieben sind?

Es gibt so viele tolle Erlebnisse in Verbindung mit dem Mythos-Grill, dass es jetzt schwer fällt, einzelne hervorzuheben. Aber ganz besonders ist mir die soziale Dynamik in der temporären MYTHOS-GRILL-Filiale in Vilnius, die ich dort auf Einladung des Goethe-Instituts realisiert hatte, in Erinnerung. Das waren zwei völlig irre, intensive und wunderschöne Wochen! In Delden in den Niederlanden gab es mal einen Frikandel-Staffellauf, der um den Häuserblock und dann durch die städtische Galerie hindurch, stattfand. Unter dem Motto „Immunabwehr anspringen – JETZT!“ hatte ich von der temporären Filiale in Neue Kunst im Hagenbucher, Heilbronn aus Fernschachduelle mit einem Kumpel, der im Krankenhaus lag. Als Schachspiel dienten aus Kartoffeln geschnitzte und frittierte Figuren. Auch die große Pommesgabel-Sortieraktion im Dortmunder U war bemerkenswert …

Was macht für dich den Reiz aus, ein Projekt wie den MYTHOS-GRILL zu wiederholen?

Im Grunde wiederhole ich den MYTHOS-GRILL nicht. Sondern ich erarbeite Variationen. Ich entwickle das Unternehmen weiter. Es gibt auch noch viele sehr konkrete Vorhaben im Rahmen des MYTHOS-GRILL-Sinnzusammenhangs, die ich bislang nicht umsetzen konnte, weil mir dafür die Voraussetzungen fehlten. Und es kommen immer noch neue Ideen hinzu. Wenn ich irgendwann das Gefühl hätte, dass es nur noch auf Wiederholungen rausläuft, würde ich den Mythos-Grill liquidieren, um mich verstärkt anderen Projekten zuzuwenden. Der MYTHOS-GRILL ist ja ohnehin nur einer meiner Arbeitsbereiche. Wenn auch eine relativ großer.

Du arbeitest oft im öffentlichen Raum, und begleitet von spielerischem Handeln, lädst du zu öffentlichem Nachdenken über die Kunst und die Welt ein. Was interessiert dich an dieser Situation?

Ich will was rausfinden. Im öffentlichen Raum ist die Situation offener. Mehr den Zufällen ausgesetzt. Ich arbeite auch gern im Museum oder vergleichbaren Kunsträumen. Aber da ist es determinierter. Man ist mehr „in Sicherheit“. Im öffentlichen Raum sind ganz andere Begegnungen möglich. Das ist sehr reizvoll.

Du hast Kunstgeschichte und Philosophie studiert und bist dann Künstler geworden. Wie beschreibst du deinen Werdegang? Was ist für dich der rote Faden in dieser Entwicklung?

Eigentlich wollte ich kein Künstler werden. Ich bin da mehr so reingerutscht. Irgendwann haben mich die in den Geisteswissenschaften mit einem Absolutheitsanspruch betriebenen Systeme der Wissensvermittlung und des Erkenntnisgewinns nicht mehr voll befriedigt. Ich habe mit anderen Methoden experimentiert.

MARBURG800 ist nicht nur ein Stadtjubiläum, sondern auch eine große Zukunftswerkstatt für die Stadt Marburg. Dazu fragen wir alle nach ihren Vorschlägen für Marburg. Hast du eine Idee, die uns gerne mit auf den Weg geben möchtest?

Letztendlich geht es ja darum, solche Prozesse zu verstetigen. Ein Stadtjubiläum zu nutzen, um etwas auf den Weg zu bringen, ist per se keine schlechte Idee. Aber zugleich birgt der Anlass die Gefahr, dass es nie über den Rahmen von Jubiläumsfeierlichkeiten hinaus geht. Also bloß Repräsentationszwecken dient. Ich habe verschiedentlich erlebt, dass Verwaltungen eigentlich Angst vor Veränderungen haben. Ich hoffe, dem ist in Marburg nicht so.

Vielen Dank, ich freue mich sehr auf die weiteren Gespräche in der Filiale des MYTHOS-GRILL am Rudolphsplatz.

BEITRAGSBILD
Foto: Olaf Ballnus
Grafik: Iulia Radu (.KLSP)