CHRISTINE AMEND-WEGMANN (GENDER EQUALITY LAB): O-TON
GENDER EQUALITY LAB
Zukunftslab
Erwin-Piscator-Haus
3. – 4. JUN 2022
Bettina Pelz im Gespräch mit Dr. Christine Amend-Wegmann, Leiterin des Gleichberechtigungsreferats der Universitätsstadt Marburg über Geschlechtergerechtigkeit im Kunst- und Kulturbetrieb und aktuelle Projekte im Stadtjubiläum Marburg800, Themenstrang MARBURG ERFINDEN.
Veröffentlicht am 11. Mai 2022.
Warum habt ihr euch im Gleichberechtigungsreferat entschieden, im Rahmen des Stadtjubiläums Marburg800 eine Zukunftswerkstatt zu machen?
Die Idee für das Zukunftslab entstand in der Abschlussphase unseres umfangreichen EU-Projektes „Marburg ohne Partnergewalt“. In diesem Projekt haben wir uns zusammen mit den Partnerstädten Sibiu in Rumänien und Poitiers in Frankreich über gute Praxisbeispiele für den Gewaltschutz an Frauen* und im Bereich der Täterarbeit ausgetauscht. Die internationale Zusammenarbeit empfanden alle Beteiligten an dem Projekt als wertvoll und produktiv.
Die begonnene Zusammenarbeit wollten wir weiterführen, auf unsere anderen Partnerstädte (Eisenach, Northampton, Maribor und Sfax) ausweiten und um weitere Themen der Geschlechtergerechtigkeit ergänzen.
Im Rahmen des Stadtjubiläums finden viele tolle und unterschiedliche Veranstaltungen statt. Unter der Überschrift „Marburg erfinden“ hat es sich sehr angeboten, eine Veranstaltung zu Geschlechterthemen – das Zukunftslab – zu planen. Unser Ziel ist es, gute Praxis-Beispiele auszutauschen, voneinander zu lernen und konkrete Projekte zu entwickeln, um unsere Zukunft geschlechtergerecht zu gestalten.
Ihr habt euch für drei Schwerpunkte entschieden: Politische Repräsentation von Frauen*, geschlechterbezogene Gewalt und Sichtbarkeit von Frauen* in Kunst und Kultur? Wie habt ihr ausgesucht? Wie habt ihr konzipiert?
Die drei Schwerpunkte spiegeln die Arbeitsschwerpunkte des Gleichberechtigungsreferats der letzten Jahre wider. Zur politischen Repräsentation von Frauen* haben wir 2019 und 2020 ein erfolgreiches Mentoring-Programm organisiert, an dem 50 Frauen* teilgenommen haben. Unser letztes EU-Projekt hatte den Schwerpunkt Arbeit gegen Partnergewalt, in diesem Feld haben wir schon vieles erreicht, aber wollen aus dem Austausch mit den Partnerstädten Neues lernen und mitnehmen. Und auch zu Geschlechtergerechtigkeit im Kulturbetrieb haben wir im weiteren Sinne schon gearbeitet, im Zusammenhang mit einer Analyse der Verteilung von Haushaltsmitteln auf die Geschlechter (Gender Budgeting oder Haushalt fair-teilen) im Fachdienst Kultur. Hier sehen wir noch am meisten Bedarf, uns auszutauschen und Ideen zu entwickeln, wie strukturell mehr Gleichberechtigung in der Kultur erreicht werden kann.
Vielleicht nochmal zu den einzelnen Strängen: Inzwischen gelten Stalking, Vergewaltigung, Körperverletzung und Mord als Straftaten, aber immer noch sind Frauen* aller sozialer Schichten und jeden Alters von Gewalt in ihrem Alltag betroffen. Warum fällt es uns als Gesellschaft so schwer, Gewalt gegen Frauen* zu verhindern?
Gewalt ist ein Problem, das sich durch alle Schichten der Gesellschaft zieht. Frauen* aus allen sozialen Schichten können von Gewalt in der Partnerschaft betroffen sein.
Es gibt viele engagierte Vereine, Institutionen und Einzelpersonen die sich für Gewaltprävention und Gewaltschutz einsetzen. Eine große Herausforderung für die Bekämpfung von Gewalt an Frauen* ist die Stigmatisierung und Tabuisierung, die mit diesem Thema einhergeht. Frauen*, die betroffen sind, trauen sich oftmals nicht, etwas gegen ihre Situation zu unternehmen, da sie Angst vor ihrem Partner haben oder sich nicht trauen, die Beziehung zu verlassen. Es ist auch ganz wichtig, dass jede*r Einzelne in seinem Umfeld aufmerksam bleibt, um Anzeichen von Gewalt in einer Partnerschaft zu erkennen. Das Thema muss noch mehr in die Gesellschaft getragen werden und dort diskutiert werden. So können Betroffene leichter an Hilfs- und Beratungsangebote gebracht werden und Täter kriegen vermittelt: Eure Gewalt ist nicht okay, aber ihr kriegt auch Hilfe.
Die Istanbul-Konvention ist ein Meilenstein, um Frauen vor allen Formen der Gewalt zu schützen, Gewalt gegen Frauen zu verhindern und strafrechtlich zu verfolgen. Was kannst du und das Gleichberechtigungsreferat dazu beitragen, dass dies Wirklichkeit wird?
Wir arbeiten eng mit den freien Träger*innen im Bereich des Gewaltschutzes zusammen. Damit alle Formen von Gewalt gegen Frauen* strafrechtlich verfolgt werden können, braucht es meiner Einschätzung nach, eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Es ist auch wichtig, bereits in der Arbeit mit Jugendlichen Grundmuster von Männlichkeit und Weiblichkeit zu besprechen und zu hinterfragen. Wenn junge Menschen für das Thema Gewalt in der Partnerschaft sensibilisiert werden, trägt dies langfristig dazu bei, dass Gewalt nicht mehr „ignoriert“ werden kann.
Zum Kontext von Gesellschaft und Politik: Das Marburger Mentoringprogramm „Frauen in die Politik“ gehört zu den interessanten Beispielen für die Unterstützung von Frauen*, die sich engagieren wollen. Was macht das Programm so produktiv?
Das Programm war sehr wertvoll, da es politisch aktive Frauen*, die schon viel Know-How und Expertise besitzen, mit politisch interessierten, aber weniger erfahrenen Frauen* zusammenbrachte und damit den Einstieg in die Kommunalpolitik erleichterte. Es ist nämlich gar nicht so leicht, sich das eigene politische Netzwerk aufzubauen und in männlich-dominierten Gremien zu arbeiten und sich dort durchzusetzen. Ergänzend haben wir Raum zur informellen Vernetzung unter den Nachwuchspolitikerinnen* gegeben und mit einem Workshop-Programm auch Kompetenzen der Teilnehmerinnen* an dem Programm erweitert. Wir konnten feststellen, dass etwa ein Drittel der Nachwuchspolitikerinnen* bei der Kommunalwahl 2021 kandidierte. Fast alle haben ein Mandat erhalten, das war wirklich ein toller Erfolg!
Wir möchten auf dem Zukunftslab unser Konzept für das Mentoring-Programm vorstellen und mit unseren Partnerstädten diskutieren, wie wir es noch zugänglicher für alle Frauen* machen können. Auch Frauen* mit Migrations- oder Fluchtgeschichte oder Frauen* mit Beeinträchtigungen haben ein Recht auf politische Teilhabe und unser Wunsch ist, unser Mentoring-Programm so zu entwickeln, dass wir sie in der Wahrnehmung dieses Rechts unterstützen.
Wie ist dein Eindruck von der Marburger Kunst- und Kulturszene, wenn es um Diversität und Geschlechtergerechtigkeit geht?
Marburg ist eine vielfältige und kulturoffene Stadt und es gibt tolle Künstler*innen hier vor Ort. Trotzdem müssen wir uns auch vor Augen halten, dass in der Kunst- und Kulturszene ein geschlechterspezifisches Ungleichgewicht herrscht. Frauen* werden in der Tendenz weniger gebucht und erhalten oft geringere Honorare. Das ist hier in Marburg ähnlich, wie es auch in bundesweiten Studien beschrieben wird. Gleichzeitig ist es so, dass sich einige Kulturschaffende dieses Themas stärker annehmen und sich mit der Problematik auseinandersetzen. Da gibt es eindeutig Bewegungen und Überlegungen, was anders werden muss.
In Marburg werden junge Künstler_innen ausgebildet, gibt es Professionalisierungs- oder Mentoring-Angebote, in denen sie lernen, sich mit den Unwägbarkeiten der künstlerischen Existenz und den tradierten und strukturellen Nachteilen von Frauen* auseinanderzusetzen?
Soweit ich weiß, ist das noch nicht der Fall, aber grundsätzlich eine gute Idee. Aus unserer Arbeit zu anderen Themen wissen wir, dass Mentoring und peer-Ansätze gut funktionieren. Insofern sollten wir darüber genauer nachdenken, ob so ein Ansatz auch für Künstler*innen in Marburg gut passen würde.
Ihr habt die Kolleg_innen aus den Partnerschaftsstädten eingeladen, ihre Arbeitsweisen und Projekte vorzustellen. Was versprecht ihr euch davon?
Wir möchten unsere Arbeits- und Praxiserfahrung mit unseren Partnerstädten teilen und freuen uns sehr darauf, selbst etwas zu lernen. Es ist immer produktiv zu wissen, wie andere Städte mit gesellschaftlichen Ungleichheiten und Problemen umgehen und welche Lösungsstrategien dafür entwickelt werden. Langfristig erhoffen wir uns, dass wir auf Grundlage des Zukunftslabs und auch des persönlichen Kennenlernens in Präsenz belastbare Arbeitsbeziehungen mit den Partnerstädten entwickeln können, die wir für unsere Arbeit für Geschlechtergerechtigkeit nutzen können. Die Impulse aus dem Zukunftslab wollen wir übrigens in unsere weitere Arbeit integrieren, indem wir sie als Maßnahmen in unseren nächsten Aktionsplan für die Umsetzung der Europäischen Charta für die Gleichstellung von Frauen und Männern auf lokaler Ebene (EU-Charta) verankern, der voraussichtlich im Herbst 2022 vorgelegt wird.
Vielen Dank, das Team von .KUNST.LABOR.STADT.PLATZ ist auf jeden Fall bei der Zukunftswerkstatt dabei. Vielen Dank für das Interview!
BILD
UNTER ORTEN Nastaran Nazari .KUNST.LABOR.STADT.PLATZ Marburg 2022.
PHOTO Andreas Maria Schäfer (AG KUNST)
LINKS
marburg.de: Gleichberechtigungsrefertat
marburg.de: Schwerpuntktthemen des Gleichberechtigungsreferats
marburg.de: Women* on Stage for Gender Equality